Sonntag, 23. März 2008

Die Erfindung "neuer" seelischer Krankheiten....

In den USA und zunehmend auch in Deutschland hat die "Schaffung" neuer seelischer Leiden Hochkonjunktur. Unterstützt von der Pharmaindustrie erfinden und diagnostizieren Ärzte immer neue psychische "Krankheiten".
Bislang als "normal" betrachtete Reaktionen auf bestimmte Lebensereignisse (Prüfungsstress, Traurigkeit, Verstimmungen, Zorn, Scheidung, Umgang mit dem Tod etc.) werden "pathologisiert" (= als krankhaft betrachtet) und als "behandlungsbedürftig" eingestuft.
Titelthema "Zeit Wissen" Nr.2 (Ausgabe Feb./Mrz. 2008): "Warum uns Ärzte für verrückt erklären"

Neue Krankheiten in diesem Sinne sind z.B.:

  • saisonal affektive Störung (Winter- und Frühjahrsmüdigkeit)
  • sexuelle Erregungsstörung (vorübergehendes sexuelles Desinteresse)
  • Burn-Out-Syndrom(vorübergehender Prüfungsstress bei Schülern und Studenten)
  • intermittierende Explosive Störung (Jähzornige Reaktion auf ein Ereignis)
  • oppositionelle Aufsässigkeitsstörung (unartiges Kind)
  • soziale Phobie oder vermeidende Persönlichkeitsstörung (= Schüchternheit)
Diese Beispiele werden im Artikel aufgeführt um aufzuzeigen, in welche Richtung die "Pathologisierung" des Normalen geht. Beklagt wird, dass die Grenzen zwischen dem, was als normal und nicht mehr normal zu betrachten ist, zunehmend verschwimmen.

So galt z.B. die "Homosexualität" bis in das Jahr 1987 als psychische Erkrankung!! Auch eine vorübergehende "depressive Verstimmung", welche jeder mehrmals in seinem Leben erfährt ist nicht gleichbedeutend mit einer ernst zu nehmenden Depression.

Betrachtet man "depressive Symptome" ohne ihren Entstehungskontext werden einstmals "depressive Verstimmungen" zur echten Depression "hochstilisiert". Vor allem die Pharmaindustrie entdeckt hier "neue" Märkte und entwickelt "Glückspillen" welche die neu erfundenen Leiden lindern sollen.

Meines Erachtens greift dieser Artikel ein durchaus sehr ernst zu nehmendes Problem auf:

Denn es steht zu befürchten, dass eine solche Entwicklung den "echten" psychisch kranken Menschen,den "Depressiven", "Phobikern" und vielen anderen, eher schadet als nützt. Die ärztliche Ausbildung beinhält in der Regel keine Ausbildung zur Diagnostik und Therapie psychischer Erkrankungen. Sie orientieren sich dann eben an solchen Botschaften, wie vor einigen Jahren noch, als man davon ausging, dass Depressionen medikamentös sehr gut zu behandeln seien:

Dipl.Pol. Justin Westhoff, UKBF-Pressestelle / MWM-Vermittlung
Universitätsklinikum Benjamin Franklin

Diese Nachricht aus 1999 wurde auch in Fachzeitschriften für Ärzte in dieser Form weitergegeben. Mit dem Ergebnis, dass Hausärzte - dank dieser "Empfehlung" depressive Patienten, anstatt in psychotherapeutische Behandlung zu überweisen, mit Psychopharmaka behandelten:


Emfehlungen mit der "Autorität" eines Universitätsklinkums
führen automatisch zu einem entsprechenden Verschreibungsverhalten bei Haus- und Fachärzten. Man entledigt sich, angesichts der knappen Gesprächszeit , seiner Verantwortung indem man rein vorsorglich ein Psychopharmakon verschreibt. Ein solches Verhalten wird z.B. auf solche Pressemitteilungen gestützt….

Dabei liegt die viel beschworene Suizidgefahr "nur" bei ca. 1% der Depressiven (M. Hautzinger, Depression, Hogrefe, 1998) und ein einfacher
„Depressionsfragebogen“ könnte im Vorfeld abklären, ob überhaupt mit einer Suizidgefährdung zu rechnen wäre. Jener wäre zwar preiswerter als das Medikament, allerdings kostet er Zeit, welche vom Gesundheitssystem nicht (angemessen) honoriert wird. Erschwerend kommt noch hinzu, dass Abrechnungsziffern bei Ärzten „kategorienspezifisch“ verteilt werden, so dass ein Allgemeinarzt z.B. keine Leistungen abrechnen darf, welche ansonsten „nur“ psychologischen und ärztlichen Psychotherapeuten und Neurologen und Psychiatern „zustehen“. Allerdings wird auch jede harmlose „depressive“ Episode - dank solcher Einflussnahmen und mangelhaftem ärztlichem Wissen aus dem Bereich der klinischen Psychologie - gleich als behandlungsbedürftig angesehen.

Nicht nur neue seelische Krankheiten - wie in "Zeit-Wissen" beschrieben, sondern auch andere alltägliche Erscheinungen, wie depressive Verstimmungen, Trennungsfolgen bei Scheidung, Schulleistungsstörungen, Schulangst, ADHS-Verdacht etc. etc. werden zunehmend pathologisiert und mit Psychopharmaka „therapiert“. Die Vorstellung Betroffener bei fachkundigen Psychotherapeuten zur Abklärung, ob es einer Psychotherapie bedarf oder nicht, findet zu selten statt. Bei Kinder- und Jugendlichentherapeuten besteht auch noch das Problem, dass ausreichende Therapeuten gar nicht zur Verfügung stehen.

Mögliche Folgen der Medikalisierung psychischer Belastungen und Erkrankungen:
Im Ergebnis kann dies dann lt. DSM IV (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen) wiederum zu sog. „medikamenteninduzierten“ Störungen führen, welche erneut psychotherapeutische Interventionen erforderlich machen…..(Beispiele: G21.1 neuroleptikainduzierter Parkinsonismus, malignes neuroleptisches Syndrom…) ganz abgesehen von weiteren physischen Nebenwirkungen auf Organe und/oder das Herz-Kreislaufsystem.

Nachdem Medikamentenmissbrauch bereits jetzt schon ein Thema – auch außerhalb von Arztpraxen ist – erscheint mir eine breit angelegte, öffentlich wirksame Aufklärung über bekannte und offene Fragen und Probleme eines möglichen Substanzmissbrauches mittels Psychopharmaka unabdingbar. Weiteres Link zum Medikamentenmissbrauch in Managerkreisen: http://www.lukesch.ch/Text99_05.htm

Weiterführende Informationen:
Derzeit werden aktualisierte Nationale Leitlinien für die Diagnose und Therapie von "Depressionen" entwickelt. Die Ergebnisse, welche auch Patienteninformationen ankündigen, sollen in diesem Jahr fertig sein:
http://www.versorgungsleitlinien.de/patienten/depressioninfo

Für Patienten stehen zum Krankheitsbild "Depression" ausführliche Informationen unter "Depression - ein Ratgeber" zur Verfügung.

Studie: Antidepressiva wie Prozac praktisch wirkungslos 26.02.2008
Peter Artmann erklärt in seinem "Medlog" bei Scienceblogs wie die Studie zu verstehen ist.

Depressionen: Ärzte sollen häufiger Depressionen diagnostizieren | ZEIT online :
"Ein Interview mit dem Allgemeinarzt Armin Wiesemann über das Bestreben der Pharmaindustrie, eine Art Rasterfahndung nach Depressionen einzuführen."

Prof. Dr. med. Volker Faust Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang Seelische Störungen erkennen, verstehen, verhindern, behandeln
Dort zur Depression

Spiegel-Online: Forscher bezweifeln Wirkung von Prozac ( Christian Stöcker )
Eine neue Studie bringt die Hersteller von Medikamenten gegen Depressionen in Erklärungsnot: In vielen Fällen wirke eine bestimmte Klasse von Stoffen kaum besser als Scheinmedikamente. Dazu gehört auch das Antidepressivum Prozac, das weltweit 40 Millionen Menschen schlucken.
Ärzteblatt:
Donnerstag, 17. Januar 2008
Portland – Studien mit positiven Ergebnissen zu Antidepressiva sind in der Vergangenheit deutlich häufiger in Fachzeitschriften publiziert worden als Negativstudien.

Psychopharmaka - Rettung oder Verhängnis?
Substanzen, die das zentrale Nervensystem beeinflussen und so Wahrnehmung, Stimmung und Verhalten verändern, sind seit Urzeiten bekannt und wurden vor allem zu kultischen und religiösen Zwecken eingesetzt. Seit etwa 50 Jahren werden solche "auf die Seele wirkenden" Stoffe zur Behandlung psychiatrischer Erkrankungen verwendet. Die öffentliche Meinung wechselt zwischen Euphorie und Verdammung - kaum ein anderes Medikament wird so kontrovers und emotional diskutiert.
Psychiatrienetz
Psychiatrienetz - Thema "Psychopharmaka"

Literatur:
Jerome C. Wakefield "The loss of sadness" (How Psychiatry Transformed Normal Sadness into Depressive Disorder (Oxford University Press, 2007)
"Jerome Wakefield joins us in this segment to discuss the trend in clinical psychiatry towards ignoring social causes of behavior in favor of strictly biological frameworks focusing on physical and chemical changes in the brain, and diagnosing disorders based on quantifiable, scientifically reliable measures of symptoms isolated from the patient's social context and value system. "

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Wird noch schlimmer werden. Ab 2009 bekommen die Krankenkassen nur für Versicherte mit Major Depression einen Kostenausgleich aus dem Gesundheitsfonds. Dann haben die Kassen ein Interesse, möglichst viele depressive Episoden zu "Major Depression" hochcoden zu lassen. So werden Depressive Fälle erzeugt. Und mit der Gesundheitskarte weiss dann jeder Arzt, dass dem Patient diese Erkrankung irgendwann zugewiesen worden ist.

Anonym hat gesagt…

Ich recherchiere gerade zu diesem Thema (Morbi-RSA + deren Anreize) für einen TV-Beitrag. Sie scheinen sich auszukennen. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir mailen/telefonieren könnten. Gruß, Antony 040 4156 4837

Monika Armand hat gesagt…

Hallo Antony, könnten wir vorab Mailkontakt aufnehmen? Meine Mailadresse: MonikaAr(at)web.de
Beste Grüße M.A.